Babys mit unerwünschtem Geschlecht werden zu Erwachsenen mit unerwünschtem Geschlecht
Sind wir als Baby mit dem “unerwünschten Geschlecht” zur Welt gekommen, so fühlen wir uns nicht gut, weil wir kein Urvertrauen entwickeln konnten. Unser Selbstbild und unser Selbstbewusstsein, das Gefühl, zu etwas berechtigt zu sein oder nicht sind davon betroffen. Daraus erwächst eine generelle Unzufriedenheit mit unserer eigenen Lebensqualität. Diese Themen gehören zu den wichtigsten Erfahrungsbereichen unseres Lebens. Wenn wir das unerwünschte Geschlecht haben, ist es möglich, dass wir unser Leben mit dem unterschwelligen Gefühl leben, dass etwas an uns für immer verkehrt ist. Ein Leben voller Unzulänglichkeit, Scham und Unsicherheit kann die Folge sein. Auch aus diesem Grund können Babys schreien.
Die Folgen zeigen sich manchmal auf subtile, für die Betroffenen selbst häufig unsichtbare Weise. Es kann bewusst oder unbewusst im äußerlichen Erscheinungsbild zum Ausdruck kommen. Manche Frauen mit unerwünschtem Geschlecht fühlen sich beispielsweise nur mit kurzen Haaren und in männlicher Kleidung wohl und tragen nie Röcke oder weibliche Accessoires. Andere Frauen, z.B. viele unserer Politikerinnen, tragen feminine Kleidung, wirken aber dennoch nicht sehr weiblich.
Was die äußere Erscheinung angeht, könnten Männer mit unerwünschtem Geschlecht weiche Körperformen entwickeln und später ungewöhnliche Frisuren tragen. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Mann seine Schattenseiten bearbeitet und eine gesunde weibliche Seite entwickelt oder ob er unbewusst feminin wirkt. Wenn man einen Menschen zum ersten Mal sieht und nicht genau sagen kann, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, hat man es wahrscheinlich mit jemandem zu tun, der als Baby mit dem unerwünschten Geschlecht geboren wurde.
Im Amerika der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre, der Babyboom-Generation, war es angemessen und sogar politisch korrekt, pro-männlich zu sein. Meine Eltern und fast alle ihre Freunde bevorzugten es, einen Jungen zu bekommen oder zumindest zuerst einen Jungen, um den Familiennamen weiter zu tragen. Unsere Nachkriegskultur war sehr patriarchal, ohne sich dessen zu schämen. Viele Mütter und Väter wollten auch Mädchen haben, mindestens ein Junge sollte jedoch dabei sein! Ein Junge als Erstgeborener bestätigte daher die starken patriarchalen Kräfte in der Familie. Der Familienname war gerettet und würde in die Geschichte eingehen, zumindest für eine weitere Generation.
Ich bin sicher, dass es vielen Familien nichts ausmachte, ob sie als Erstgeborenen einen Jungen oder ein Mädchen bekamen. Und für viele Familien war es auch in Ordnung, zwei Jungen oder zwei Mädchen zu haben. Diese Familien befanden sich aber in der Minderheit. Familien, die mit mehreren Kindern des gleichen Geschlechts glücklich sind, sind sogar noch seltener.
Wie erging es den Babyboom-Familien, die sich zuerst einen Sohn wünschten, stattdessen aber eine Tochter bekamen? Viele waren frustriert und schämten sich öffentlich oder heimlich, und ihr kleines Mädchen entwickelte einen “unerwünschtes-Geschlecht”-Komplex. Das bedeutet nicht nur, dass dieses Kind das unerwünschte Geschlecht hat. Biologisches Geschlecht und sexuelle Vorliebe stellen nur einen kleinen Teil des Komplexes dar. Es kann während seiner ganzen Kindheit im Herzen danach streben, liebenswerter zu sein, um den Vorstellungen seiner Eltern besser zu entsprechen. Vielleicht entwickelt sich ein Mädchen aus diesem Grund zu einem Wildfang, auch wenn nicht alle burschikosen Mädchen diesen Komplex haben. Sie kann andere ,männlichere’ Eigenschaften entwickeln, um dem Idealbild ihrer Eltern besser zu entsprechen, Z.b. konkurrenzbetonter oder besonders gut im Sport, was sonst eher jungen sind. Vielleicht wählt sie einen Beruf als Arztin oder Anwältin oder orientiert sich auf andere Art an eher männlichen Unternehmungen. Oder sie macht sogar Jagd auf hübsche Mädchen. Und bei alldem kann es sein, dass sie ihr gesamtes Leben nicht weiß, welche tiefen inneren Motive ihre Entscheidungen beeinflussen und innerlich antreiben.
Natürlich wollte sie geliebt werden. Aber Eltern, die sich einen Jungen wünschen, können ihr Mädchen nicht mit der gleichen Intensität lieb haben. Und Babys spüren das! Das Mädchen in unserem Beispiel hätte es gespürt. Auch wenn sie stets sehr gute Noten nach Hause bringt, Sporttrophäen gewinnt, eine Geschäftsfrau wird, viel Geld verdient und mit einer guten Frau in Beziehung lebt. Sie hat nie empfunden, wie es sich anfühlt ,richtig’ zu sein. Das bezeichnen wir mit ‘unerwünschtes-Geschlecht’-Komplex.
Wenn in unserer Babyboom-Generation die Eltern das Glück eines erstgeborenen Sohns hatten, dann musste das zweite Kind ein Mädchen werden! Sogar viele männliche Männer wollten eine Tochter, wenn sie bereits einen Sohn hatten, der den Familiennamen weiter trug. Auch viele Mütter der Nachkriegsgeneration wünschten sich eine Tochter, wenn nicht als erstes, dann aber auf jeden Fall als zweites Kind. Viele wünschten sich insgeheim ein Mädchen, aber nach außen hin - aus Respekt vor dem unausgesprochenen Grundsatz des großen amerikanischen Traums - bekannten sie sich zu einem Jungen. Natürlich hatten viele Familien zwei Söhne und in zahlreichen Familien litt dann der zweite Junge am ‘unerwünschtes-Geschlecht-Komplex. Je nachdem wie stark der Wunsch der Eltern nach einer Tochter war, mussten die Eltern sich entscheiden, ob sie ein weiteres Baby haben wollten oder nicht. Dann bestand aber das Risiko, dass sie einen dritten Sohn bekommen könnten. Wie würden sie dann mit ihm umgehen?
Für den zweiten oder dritten Sohn gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder werden sie weicher, kleiner, interessierter an (weiblichen) Themen, die ihre Mutter gerne mit einer Tochter geteilt hätte (direkte Wiederholung der Erwartung). Oder sie rebellieren gegen die Erwartungen des anderen Geschlechts und werden hyper-männlich (vermeidende Wiederholung der Erwartung). Beide Wiederholungsstile können für das Baby mit dem unerwünschten Geschlecht dazu führen, dass das Leben schwerer, unnatürlicher und weniger befriedigend wird. Diese Kinder müssen härter für Liebe und Anerkennung arbeiten. Ihnen fehlt die Erfahrung, einfach nur geliebt zu werden für genau das, was sie sind.