Zur Bindungsanalyse

Die ungarischen Psychoanalytiker György Hidas und Jenö Raffai haben mit ihrer Methode der Bindungsanalyse eine primäre Ebene menschlicher Bezogenheit erschlossen. Am Anfang stand die Entdeckung der Dimension der vorgeburtlichen Beziehung in der Lehranalyse von Jenö Raffai bei György Hidas, die über viele Jahre lief. In dieser Zeit arbeitete Raffai als Psychologe an einer psychiatrischen Klinik mit psychotischen Jugendlichen und entdeckte in seiner therapeutischen Arbeit deren elementaren Wunsch nach einer Rückkehr in den Mutterleib, der sich in der therapeutischen Beziehung als Wunsch einer Aufnahme in den Leib des Therapeuten manifestierte, um durch eine neue Geburt die erste nur mangelhafte und unvollständige Geburt zu vervollständigen.

Diese Erkenntnisse der großen Bedeutung der Bedingungen der vorgeburtlichen Lebenszeit und der Geburt führten zu dem Plan einer Initiative zur Unterstützung der werdenden Mütter durch Gründung einer Stiftung. Die Unmöglichkeit, dies unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen zu verwirklichen, war ein Hintergrund zur Entwicklung einer Methode zur inneren Unterstützung der werdenden Mütter in der Schwangerschaft. Dies war die Geburtsstunde der Bindungsanalyse, die Hidas und Raffai zusammen entwickelten. Sie entdeckten dabei den neuen Kontinent der vorgeburtlichen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Sie konnten diese Beziehung den Müttern innerlich zugänglich machen und erschlossen damit ein Potential, das in jeder Frau vorhanden ist und sich in der vorgeburtlichen Zeit entfalten kann, aber bisher weitgehend unbewusst blieb. Durch das Innewerden dieses Potentials weckten die Mütter in ihren Kindern auch deren Potential zu einer erlebten Beziehung vor der Geburt, das ihnen ein neuartiges Erleben ihrer selbst und damit eine seelische Differenzierung von der Mutter bereits vor der Geburt ermöglichte. Dies wiederum erwies sich als die Vorbedingung für eine wirkliche und vollständige seelische Geburt, was sich in der erstaunlichen Autonomie und Beziehungsfähigkeit der „Bindungsanalysebabys" immer wieder bewegend beobachten ließ.

Das Buch „Die Nabelschnur der Seele", Psychosozial-Verlag, Gießen 2005 (das ungarische Original erschien 2002) war dann die Begründung der Methode und die Lusammenfassung der gemachten Erfahrungen in einer allgemeinverstandlichen Form mit vielen Berichten der Mütter über ihr Erleben in der Bindungsanalyse. 1991 hatte Raffai die Methode erstmals in einem wissenschaftlichen Rahmen im deutschen Sprachraum in Heidelberg vorgestellt. Verschiedene Aspekte und weitere Beobachtungen stellte er dann mehrfach auf den Arbeitstagungen und Kongressen der ISPPM (International Society for Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine) vor, die jeweils im International Journal for Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine veröffentlicht wurden. Dem folgten dann eigene Tagungen zur Bindungsanalyse in Köln, die von Helga Blazy organisiert wurden. Sie war dann auch Herausgeberin der Tagungsbände, die auch die Vorträge von Jenö Raffai enthielten.

Seit 2004 fanden in Heidelberg Fortbildungen zur Bindungsanalyse statt, die von Jenö Raffai und mir geleitet wurden. Sie umfassten in der Regel sieben Wochenenden zur Theorie und zwölf Wochenenden zur praktischen bindungsanalytischen Begleitung der werdenden Mütter. Später fand auch je ein Kurs in Wien und in Köln statt (siehe www.bindungsanalyse.de www.bindungsanalyse.at). In diesem Kreise entstand das Bedürfnis die verschiedenen Artikel von Jenö Raffai in einem Band vereinigt zu haben. Dies war auch der Wunsch von Jenö Raffai selbst, der wegen einer Erkrankung zuletzt nicht mehr aktiv an den Kursen teilnehmen konnte. Er hat Helga Blazy gebeten, die Herausgabe zu besorgen und sie hat dieser Bitte in dankenswerter Weise entsprochen. Dabei hat sie die Umsetzung so zugig begonnen, dass der Band nun schon nach kurzer Zeit vorliegen kann.

Man kann ihm nur eine weite Verbreitung wünschen, da, wie schon gesagt, durch die Bindungsanalyse ein neues Potential menschlicher Bezogenheit erschlossen wird, sodass die hier gemachten Beobachtungen eine grundsätzliche Bedeutung für die Psychotherapie, die Geburtsvorbereitung, die Geburtshilfe, die Psychotherapie und die Humanwissenschaften insgesamt haben. Darüber hinaus hat die Bindungsanalyse eine ebenso grundsätzliche Bedeutung für die Prävention, insofern sie zeigen kann, dass durch eine Unterstützung der vorgeburtlichen Beziehung die spätere Beziehungsfähigkeit und die Konfliktfähigkeit nachhaltig gesteigert und verbessert werden können. Das weist auf das große Potential hin, das der Verbesserung der Elternkompetenz und der gesellschaftlichen Unterstützung werdender Eltern zukommt. In diesem Sinne trägt die Bindungsanalyse zur Friedensfahigkeit in unseren Gesellschaften bei.

Heidelberg, im März 2015
Ludwig Janus

Literatur

Hidas G, Raffai J (2005) Die Nabelschnur der Seele. Psychosozial-Verlag, Gießen
Blazy H (2009) „Wie wenn man eine innere Stimme hört". Bindung im pränatalen Raum. Mattes, Heidelberg
Blazy H (2012) „Gespräche im Innenraum". Intrauterine Verständigung zwischen Mutter und Kind. Mattes, Heidelberg
Blazy H (2014) „Und am Anfang riesige Räume … und dort erschien das Baby". Berichte aus den intrauterinen Raum. Mattes, Heidelberg
Grille R (2005) Parenting for a Peaceful World. Longueville Media, Alexandria, Australia
Janus L (2010) Über Grundlagen und Notwendigkeiten der Förderung der Elternkompetenz. In: Völmicke E, Brudermüller G (Hg) Familie - ein öffentliches Gut? Königshausen und Neumann, Würzburg
Schroth G (2014) Die Bindungsanalyse nach Jenö Raffai. In: Evertz K, Janus L, Linder R (Hg) Lehrbuch der Pränatalen Psychologie. Mattes, Heidelberg, S 549- 555

► Ludwig Janus, Jenö Raffai: Vorwort zum Buch: Gesammelte Aufsätze von Jenö Raffai

Jenö Raffai, Ludwig Janus   |   Tags: kinderschutz