Dem Leben entfremdet

Denken wir aber ohne Mitgefühl, dann leben wir in einer Scheinwelt aus Abstraktionen, die Kampf und Konkurrenz zu den Triebkräften unserer Existenz machen. In dieser Welt der Abstraktionen dominiert die Gewalt. In ihr kann nur überleben, wer andere unterwirft oder vernichtet. Diese Vorstellung eines Lebens ohne Mitgefühl ist auf Feinde angewiesen. Ja, wir beginnen uns selbst durch das Feindbild, das wir heraufbeschwören, zu definieren. Indem das abstrakte Denken – also das Kognitive – das Empathische in uns ersetzt, entfernen wir uns immer mehr von jeder unmittelbar gefühlten Wirklichkeit. Wir wenden uns dem Untergang zu.

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Dass das Schreien von Säuglingen bei uns als selbstverständlich und normal akzeptiert wird, spiegelt wider, dass das Schreien eines Kleinkindes als Schachzug in einem unvermeidlichen Machtkampf mit den Eltern betrachtet wird.

Es gibt aber Kulturen, in denen Kinder nie oder so gut wie nie schreien. Die Kinderschreie berühren die Eltern als Ausdruck wahrer Bedürfnisse ihres Kindes nach Wärme, Gehalten-Werden, Hunger oder wegen anderer Nöte. Es ergibt sich aber aus der Interaktion zwischen den Kindern und den sie Bemutternden, die nicht auf deren Nöte eingehen können, dass sich grundsätzliche Unsicherheiten in unseren Kindern entwickeln. Diese Unsicherheiten führen an die Quelle, der die Jagd nach absoluter Sicherheit entspringt. Diese wird dann zur Antwort auf der Suche nach einem Dasein, das dem Leben Geborgenheit geben soll. Doch diese Suche tötet das Leben. Denn die Suche nach absoluter Sicherheit führt dazu, dass ein Mensch sich für immer gegen die nächste Unsicherheit wappnen muss. So werden wir von einem internalisierten Albtraum verfolgt: Man träumt, dass man versagen könnte. Freud interpretierte diese Angst als Kastrationsangst, weil sie sich in Männern durch die Angst vor sexuellem Versagen ausdrückte. Die Folge ist die Suche nach einer Macht, durch die man sich gegen alles und alle wehren kann. Für Menschen, die so früh in ihrem Leben von Unsicherheit und Verachtung für ihre Ängste geprägt wurden – Angst wird als männliche Schwäche gebrandmarkt –, wird Macht zum einzigen Mittel, sich ein Gefühl von Sicherheit zu erschaffen.

Das Machtstreben verändert aber unser Gefühlsleben, das ursprünglich gefühlsbestimmt ist und uns die Welt empathisch erkennen lässt. Jetzt jedoch werden Gefühle von der Notwendigkeit, Unsicherheit zu kompensieren und zu übertrumpfen, bestimmt. Das verändert die Sicht auf die uns umgebende Wirklichkeit, eine Sicht, die jetzt nicht vom direkten empathischen Sehen bestimmt ist, sondern von der subjektiven Notwendigkeit, alles als Kampf um die Existenz wahrzunehmen. Das muss kein bewusster Vorgang sein, und ist es meistens auch nicht, weil wir es als selbstverständlich erleben, uns in einem andauernden Überlebenskampf zu befinden. So gerät unsere Wirklichkeitswahrnehmung in vorgeprägte Gedankenmuster, die auf abstrakten Formeln beruhen und die Notwendigkeit erfüllen, Macht zu besitzen. Gefühle werden durch diesen Vorgang abgetrennt von dem, was sie einmal waren, nämlich Ausdruck empathischer Prozesse, die ganz direkt der objektiven Realität entsprachen. Deswegen trauen wir unseren Gefühlen auch nicht mehr, weil die Gefühle, die wir erleben, uns so oft in die Irre führen. Wir erkennen nicht, dass das, was wir als Gefühle erleben, nichts mit natürlichen Gefühlen zu tun hat. Vielmehr sind es Artefakte, die wie Gefühle erlebt werden, deren ursprüngliche Quelle in den Unsicherheiten liegt, denen wir ausgesetzt wurden, weil unsere bemutternden Instanzen unsere empathisch gesteuerten Bedürfnisse unterdrückten.

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Gehorsam scheint laut Lynd außerdem zu einem Bedürfnis nach Eindeutigkeit zu führen, was als Kriterium für eine »Verantwortung« herhält und wiederum ja nur den Autoritäten dient. Diese falsche Verantwortung führt durch die Anpassung an soziale Normen zu persönlicher Kohärenz. Diese Kohärenz aber beruht auf Gehorsam. Sie unterscheidet sich grundlegend von einer Identität, die sich aus eigenen empathischen Wahrnehmungen herleitet, durch die Notwendigkeit, andersartige Verhaltensweisen bestrafen zu müssen. Denn abweichendes Verhalten „bedroht die eigene Anpassung an den Gehorsam, stellt sie infrage und macht genau deswegen Angst.

Das ist ein – vielleicht sogar der hauptsächliche – Faktor, der die Gewalttätigkeit ideologischer Extremisten auslöst. Sie müssen Andersdenkende zum Schweigen bringen, weil diese ihre zusammengebastelte, auf Gehorsam basierende Identität bedrohen.

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Politiker, Historiker, Archäologen und Evolutionsbiologen übersehen aber absichtlich, so scheint es, wie zentral die Rolle der Mutter-Kind-Bindung ist und wie entscheidend sie sich auf die Gesellschaft auswirkt. Indem ihre Bedeutung für unsere Evolution verneint wird, bleiben unser menschliches Selbstbild, unser Werdegang und unsere Zukunft lückenhaft und gespenstisch unwirklich. Wo empathisches Bewusstsein zerstört oder verdrängt wird, wird in die Entwicklung der menschlichen Evolution eingegriffen. Wenn ideologische Slogans und abstrakte Verhaltensregeln empathische Wahrnehmungen verdrängen, nehmen wir Wirklichkeit mit einem Mal anders, nämlich unwirklich und reduziert wahr. So bahnt sich die Reduktion der Wirklichkeit an. Die Ganzheit wird zerstückelt, die Teile der uns umgebenden Welt bleiben unbeachtet, folglich kann diese veränderte Wirklichkeit gar nicht anders als zerstörerisch zu wirken.

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Wenn Erwachsene als Kinder selbst durch ein Bewusstsein geformt wurden, das Liebe einschränkte und Macht über sie zum Zweck der Beziehung machte, dann werden sie selbst, wenn sie Eltern sind, ihre Kinder dazu benötigen, ihre eigenen Unsicherheiten und Demütigungen zu bewältigen. Eine Pose der Autorität gegenüber dem Kinde aufrechtzuerhalten, wird dann das Ziel sein. Keine Selbstzweifel sollen sichtbar werden; Eltern möchten um jeden Preis bestimmend und selbstsicher erscheinen. So glauben Eltern sich darstellen zu müssen – trotz innerer Unsicherheiten –, um ihren fiktiven Selbstwert zu festigen. Ein Kind aber ordnet sich, nachdem es Ohnmacht, Hilflosigkeit, Schmerz und Wut durch fehlendes elterliches Entgegenkommen erlebt hat, apathisch und erschöpft den Erwartungen der Eltern unter.

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„Im nächsten Schritt muss sich ein Kind immer mehr von seinen empathischen Wahrnehmungen abtrennen, weil es andernfalls durch sie bedroht werden würde. Schmerz und Leiden dürfen nicht erlebt werden. Der Schmerz wird unerträglich. Also muss er abgespalten und verworfen werden.

Menschen, denen dies zugestoßen ist, suchen später nach einem Ventil: Sie peinigen andere Menschen. Genau dies verbirgt sich hinter den Geschichten von Jugendlichen, die hilflose Menschen angreifen und oft sogar tödlich verletzen. Die Spaltung von Gefühl und Denken ist ein Prozess, der längst zum Merkmal des gesellschaftlichen Bewusstseins geworden ist.

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Warum gibt es so viel Böses in der Welt? Und warum wird das Böse von so vielen unterstützt? Und vielleicht ist die zweite Frage auch noch die Antwort auf die erste. Die aktuelle Zahl derer, die das Böse antreiben, ist weit geringer als die derer, die entweder mitmachen oder es zulassen.„Warum lassen wir aber das Böse zu? Warum wehren wir uns dagegen, den Schmerz des Opfers wahrzunehmen? Warum haben wir nicht nur kein „Mitgefühl für die Opfer, sondern glauben sogar, Mitgefühl für das vermeintliche Leid der Täter haben zu müssen? Warum liefern wir uns selbst den Tätern aus?

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Die demokratische Perspektive wird ohne Solidarität, Empathie, Kooperation und gegenseitige Anerkennung der emotionalen Lage unmöglich sein. Menschen, die sich nicht als Subjekt eigenen Handelns begreifen können, die sich als fremdgesteuert, unterdrückt und schwach erfahren, ohne dies zugeben zu können, sind immer für die Verlockungen der Identifikation mit scheinbar starken Männern oder Frauen anfällig. Das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit würde den Blick auf die Verletzlichkeit des anderen öffnen. Aber ohne Zugang zur Empathie sind dieses Bewusstsein und entsprechendes Handeln nicht möglich.

Und so sind die demokratischen und politisch links gerichteten Denker und Politiker, die Probleme intellektuell lösen wollen, oft nicht in der Lage, den faschistischen Kräften entgegenzutreten. Die liberalen und linken Kräfte können die Ängste der Gedemütigten und Unterdrückten nur durch soziologische Abstraktionen erklären und reagieren nicht auf den aus Angst resultierenden Hass. Und indem Macht und Autorität als Gegenmittel zur unterschwelligen Unsicherheit gefördert werden, merken die Menschen nicht, dass es genau diese Mittel sind, welche der Faschismus als Identifikationsmöglichkeit offeriert.

Unsere Kultur kreiert eine psychische Ökonomie, eine Politik des Unbewussten, die hinter der Maske von Status und Größe ein beschädigtes Subjekt, den leidensunfähigen Menschen, verbirgt. Betroffene können nur ihre eigene Deformation auf andere nach außen projizieren, statt sich dem schmerzhaften Erkennen und Erleben der eigenen Beschädigung zu stellen. So sind wir nicht in der Lage, unsere wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen, weil unsere Sicht darauf uns unsere eigene Beschädigung würde erkennen lassen. Doch davor scheuen wir uns. Wir sind blind, verschließen uns vor der Realität und glauben dennoch, in ihr zu leben.

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Für unsere Zukunft müssen wir das erweiterte Bewusstsein schützen und festigen, indem wir die lebendige Interaktion zwischen Mutter und Kind als entscheidenden Faktor in der Evolution unserer Spezies berücksichtigen. Wir müssen alles tun, um das Bindungsverhalten in seiner grundlegenden Rolle in der Entwicklung der Empathie und des erweiterten Bewusstseins zu unterstützen.

► Arno Gruen: Dem Leben entfremdet

Arno Gruen   |   Tags: kinderschutz, politik