Evas Erwachen
Menschen, die zu »Hitlers willigen Vollstreckern« wurden, hatten sehr frühe Rechnungen zu begleichen, weil sie auf die im Säuglings- und Kindesalter erfahrene Gewalt nie adäquat reagieren durften. Nicht der Freudsche »Todestrieb«, sondern die sehr früh unterdrückten emotionalen Reaktionen bildeten das latent destruktive Potential.
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Denn hinter den Fakten, die sie mitzuteilen versuchte, verbarg sich das Leiden des kleinen Mädchens, das noch gar nicht sprechen kann, das ganz auf das Verständnis der Erwachsenen angewiesen ist und allein gelassen wird. So hat Isabelle zwar den Schock gespürt, aber die ganze Dimension dieses Erlebnisses blieb ihr selbst verborgen, solange sie um jeden Preis ihre Liebe zum Vater erhalten wollte.
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Es genügt nicht, die Verdrängung aufzugeben (und schon gar nicht mit Hilfe der Hypnose, die oft willkürlich die Barrieren der Abwehr mißachtet), um sich von frühesten Überlebensstrategien zu befreien und dem einst betrogenen Kind den Weg zum Vertrauen zu öffnen. Auch erzieherische Maßnahmen und gutes Zureden reichen nicht aus, um das versteckte Kind im Erwachsenen zu ermutigen, zu sich selber zu stehen. Nicht, solange der Körper mit seinem Wissen allein bleibt. Erst die Entdeckung der Wahrheit und der logischen Folgerichtigkeit der kindlichen Strategien ermöglicht die Befreiung von ihnen und von den fast automatischen Wiederholungen in der Gegenwart. Und erst in der Sicherheit einer integren Begleitung kann dies geschehen.
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Ein Mensch fühlt sich nur dann zur Destruktion gedrängt, wenn seine Seele am Anfang seines Lebens gefoltert wurde. Ein in Liebe und Achtung aufgewachsenes Kind ist nicht für Kriege motiviert. Das Böse gehört nicht notwendig zur menschlichen Natur. […] Die Blindheit der Gesellschaft für diese Mechanismen führt dazu, daß Kriege immer noch möglich sind, weil deren Ursachen unerkannt bleiben.
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Wie soll man ein Übel erfolgreich bekämpfen, wenn man sich weigert, hinzuschauen und zu erkennen, daß es täglich neu produziert wird? Aus der kindlichen Angst, ein schmerzhaftes Thema zu berühren, ist man nicht mehr in der Lage zu sehen, welche Möglichkeiten wir heute als Erwachsene haben, einem schrecklichen Unheil entgegenzuwirken. Es stehen uns nämlich zahlreiche Mittel zur Verfügung, um der Reinszenierung des Elends vorzubeugen, doch um diese richtig einsetzen zu können, müssen wir die Augen öffnen.
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Ich werde häufig gefragt, was ich heute für den entscheidenden Faktor in der Psychotherapie halte. Ist es, wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, die emotionale und kognitive Erkenntnis der im Körper gespeicherten Wahrheit, die Befreiung vom Schweigegebot und von der Idealisierung der Eltern, oder ist es die Gegenwart des Wissenden Zeugen? Ich denke, dies ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-auch. Ohne den Wissenden Zeugen ist es unmöglich, die Wahrheit der frühen Kindheit zu ertragen. Doch unter einem Wissenden Zeugen verstehe ich nicht jeden, der Psychologie studiert oder Primärerlebnisse bei einem Guru erfahren hat und in Abhängigkeit von ihm geblieben ist. Wissende Zeugen sind für mich vielmehr Therapeuten, die den Mut haben, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen, dabei autonom werden und die nicht ihre verdrängte Ohnmacht durch die Macht über ihre Patienten ausgleichen müssen.
Am Beispiel des Psychiaters A im Kapitel »Das Umgehen der Kindheitsrealität in der Psychotherapie« versuchte ich anzudeuten, wie man ihm meines Erachtens mit einem anderen therapeutischen Konzept besser hätte helfen können. Theoretisch geht es für ihn darum, im täglichen Leben immer wieder zu sehen, wo Spuren seiner kindlichen Realität auftauchen, diese so besser kennenzulernen und nicht blind zu agieren. Er braucht Hilfe, um die gegenwärtigen Situationen als Erwachsener emotional zu bewältigen und gleichzeitig im engen Kontakt mit dem einst leidenden und wissenden Kind zu bleiben, das er so lange nicht anzuhören wagte, aber heute, in der Begleitung, anhören kann.
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Ansätze zu diesem therapeutischen Konzept gibt es bereits seit einigen Jahren, häufig in Form von Ratschlägen für Selbsttherapien, die ich früher ebenfalls befürwortete. Heute tue ich das nicht mehr ohne Einschränkungen. Denn meines Erachtens bedürfen wir unbedingt der Begleitung Wissender Zeugen für diese Arbeit. Leider haben die meisten Therapeuten diese Art von Begleitung in ihrer Ausbildung selbst nicht erfahren. Ich kenne allzugut die verschiedenen Varianten der Angst der Therapeuten, ihre Eltern zu verletzen, wenn sie ihre eigene Not als Kind ohne Beschönigungen zu sehen wagen, und die daraus entstehende Hemmung, dem Patienten in seiner Not wirklich beizustehen. Aber je mehr wir darüber schreiben und sprechen, um so schneller wird sich diese Situation ändern und die Angst vermindern. In einer für die Not des Kindes aufgeschlossenen Gesellschaft ist man mit seiner Geschichte nicht mehr allein. Die Therapeuten werden es zunehmend wagen, die Freudsche »Neutralität« abzulegen und bedingungslos für das ehemalige Kind in ihrem Klienten Partei zu ergreifen. Dann wird auch der Klient den nötigen Raum erhalten, in dem er sich mit seiner wahren Geschichte gefahrlos konfrontieren kann.
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Viele von uns behandeln das sogenannte innere Kind wie einen Sträfling, der in ständiger Angst leben muß und abgeschnitten von dem Wissen ist, das ihn befreien könnte. Wenn dieses Kind einmal seine Fesseln abschütteln darf, wenn ihm erlaubt wird, zu sehen und zu beurteilen, was es sieht, kann es sein Verlies verlassen. Es hat keine Angst mehr, weil es die Manipulationen durchschaut hat. Es hat keine Angst zu sehen, weil es nicht schweigen muß, weil es das sagen darf, was es sieht, weil es mit dem, was es sieht, nicht allein ist, sondern vom Wissenden Zeugen bestätigt wird, weil es endlich von ihm das bekommen hat, was ihm die Eltern verweigert haben: den Nachweis, daß seine Wahrnehmungen richtig sind, daß Grausamkeit und Manipulation sind, was sie sind, daß das Kind sich nicht zwingen muß, Liebe in ihnen zu sehen, daß dieses Wissen notwendig ist, um echt zu sein und zu lieben, und daß der Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen werden darf.
Zum ersten Mal dürfen sie etwas empfinden, was für ein geliebtes und beschütztes Kind ganz selbstverständlich war, nämlich die Einheit mit sich selbst. Sie dürfen ihren Sinnen glauben, müssen sich nicht länger betrügen und dürfen sich endlich in ihrem Innern zu Hause fühlen. Sie müssen nicht wie früher fliehen. Sie können ihre Gefühle zulassen im Vertrauen, daß diese ihnen nichts anderes mitteilen als das, was zu ihnen und ihrer Geschichte gehört, in der sie sich immer besser auskennen werden.