Die Vorrangstellung menschlicher Präsenz

Ich will mit dem Wichtigsten anfangen, was ich zu sagen habe: Das Wesen der Arbeit mit einem anderen Menschen ist, als lebendiges Wesen da zu sein. Und das ist ein Glück, denn wenn wir klug sein müssten, oder gut, oder reif, oder weise – dann hätten wir wahrscheinlich ein Problem. Aber darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist, ein Mensch mit einem anderen Menschen zu sein. Das andere Wesen da drinnen zu erkennen. Selbst wenn es eine Katze ist oder ein Vogel – wenn du versuchst, einem verletzten Vogel zu helfen, dann musst du zuerst wissen, dass da jemand drinnen ist, und dass du warten musst, bis diese „Person“, dieses Wesen da drinnen, mit dir in Kontakt kommt. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.

Also, wenn ich mich mit jemandem hinsetze, dann nehme ich meine Schwierigkeiten und Gefühle und lege sie hierher, auf eine Seite, nah bei mir, weil ich sie vielleicht brauche. Ich will vielleicht hineingehen und etwas darin sehen. Und ich nehme all die Dinge, die ich gelernt habe – klientenzentrierte Therapie, Reflexion, Focusing, Gestalt, psychoanalytische Konzepte und alles andere (ich wünschte, ich hätte noch mehr davon) – und lege sie hierher, auf meine andere Seite, auch nah. Dann bin ich einfach hier, mit meinen Augen, und da ist dieses andere Wesen. Wenn sie zufällig in meine Augen schauen, dann werden sie sehen, dass ich einfach ein zittriges Wesen bin. Ich muss das aushalten. Vielleicht schauen sie nicht. Aber wenn sie es tun, dann werden sie das sehen. Sie werden das leicht scheue, leicht sich zurückziehende, unsichere Dasein sehen, das ich bin. Ich habe gelernt, dass das in Ordnung ist.

Ich muss nicht emotional sicher und fest anwesend sein. Ich muss einfach nur da sein. Es gibt keine Voraussetzungen dafür, was für ein Mensch ich sein muss. Was gebraucht wird für den großen Therapieprozess, den großen Entwicklungsprozess, ist ein Mensch, der da ist. Und so bin ich nach und nach zu der Überzeugung gekommen, dass sogar ich das sein kann. Auch wenn ich, wenn ich allein bin, daran zweifle – weiß ich doch, in einem objektiven Sinn, dass ich ein Mensch bin.

► Eugene Gendlin: The small steps of the therapy process: How they come and how to help them come. (1990)

Eugene Gendlin   |   Tags: helfen