Zur Psychodynamik der Scham

Scham und Schuld sind entsprechend der bisherigen fachlichen Äußerungen sehr komplexe, seelisch belastende Gefühlsqualitäten, die regelhaft bei Psychotraumapatienten auftreten. Diese Gefühlsqualitäten werden häufig durch grenzüberschreitende Gewalt in spezifischen traumatisierenden Interaktionsstrukturen in das Traumaopfer eingepflanzt und chronifizieren sich im Laufe vieler Jahre. Ohne eine Bewusstmachung im Rahmen einer Psychotherapie oder stark divergenter Lebensumstände sind diese Prozesse schwer veränderbar. Scham und Schuld haben sowohl einen klaren Opfer- als auch einen geprägten Täter-Opfer-Aspekt. Der erstere, der Opfermodus, ist im Grunde ein tragischer, isolierter, manchmal magischer Eigenbezug des emotional bloßgestellten, beschämten und beschuldigten Individuums, welches sich nicht gegen infame, verdrehte Darstellungen der Täterpersonen wehren kann.

Der Täter-Opfer-Aspekt beinhaltet beim einstigen Traumaopfer jetzt Verhaltenstendenzen von egozentrischer, selbstgerechter Gewaltausübung, in welcher andere Individuen - wie bspw. die eigenen Kinder u. ä. abhängige Personen - in automatisierten Impulsmustern in Form einer Fortsetzungskette bloßgestellt und beschuldigt werden. Der Kern der eigenen Gewalterfahrungen aus der eigenen Kindheit ist hier zumindest atmosphärisch die Handlungsschablone. Die Opferprägungen im interaktiven Milieu entstehen besonders durch starke Angstbindungen der beziehungsabhängigen Individuen, in welchen die Täter vorrangig mit Mitteln der Informationszurückhaltung, durch demonstratives Schweigen wie auch durch Falschattribuierung, Verdrehung und Lüge das unterlegene Subjekt bearbeiten. Andere Mittel sind pure offensichtliche Gewaltdrohungen mit Beschämungs- und Schuldritualen.

Täter-Opfer-Ketten entstehen durch besonders intuitive Dominanzbedürfnisse der einst betroffenen Opfer. Sie haben bspw. umfangreiche Kontrollbedürfnisse bei unterlegenen Individuen und können ihre Führungsansprüche schwer relativieren, weil die Rücknahme von impulsiven Fehlentscheidungen bspw. einen nicht kompensierbaren Werteverlust bedeuten würde. Oder aber einstige Opferpersonen haben sehr verfestigte Täterimplantate oder glauben die Betroffenen, dass ihre Wünsche, Sehnsüchte und Ansprüche inakzeptabel sind und zu Ablehnung führen, sobald sie offenkundig werden, So wird die Beschämung, die eine solche Ablehnung mit sich bringt, aus einer egozentrischen Perspektive erklärt. Nun wird nicht mehr die Ablehnung als Ursache der Scham aufgefasst, sondern es ist das inakzeptable Selbst der Betroffenen, das zur Ablehnung führt.

Auf diesem Hintergrund wird es zur Grundlage des Umgangs mit Anderen, nicht aufzufallen und die eigenen Wünsche, Hottungen und Bedürfnisse zu verbergen. So wird ein chronisches Schamgefühl aufrechterhalten, das aber Schutz vor der akuten, tiefsitzenden Scham bietet, wenn man seine ,verwerflichen’) Wünsche offenbart (z. B. den Wunsch zeigt, eine Verbindung mit dem Therapeuten herzustellen) und deshalb zurückgewiesen wird (Bromberg, 2017; Schimmenti, 2012).

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Beziehungstraumata, bei denen es zu tätlichen Übergriffen kommt, die Scham am stärksten durch körperliche und geistige Niederlage (Unterwerfung) und die Einschätzung des Selbst als ,Versager’ bahnen; als Konsequenz können Versuche, in Beziehung zu treten, vermieden werden, aus Angst, dass das gescheiterte Selbst abgelehnt werden könnte. Unterlassungshandlungen in einer Beziehung hindern das Selbst naturgemäß daran, eine Bindung aufzubauen und lösen Scham zunächst durch ein Gefühl der Ausgrenzung aus (d. h. dies kann schon geschehen, bevor Prozesse der Selbstbeurteilung einsetzen). Die Erfahrung, dass der Andere das Selbst als unsichtbar behandelt, bietet einen Bezugsrahmen dafür, das eigene Selbst als nicht sehenswert zu begreifen (Bromberg, 2017). Die Betroffenen betrachten dann ihre Motivationen und Empfindungen (z.B. Gedanken, Gefühle, Wünsche) als Grund für die erfahrene Ablehnung. Sie sehen nun das Selbst als fehlerbehaftet und für Andere inakzeptabel und als den Grund, warum sie ausgeschlossen werden (das Selbst schafft es nicht, ,anziehend’ auf Andere zu wirken, aufgrund von deren Abneigung). Was damit begann, dass das Selbst von einem Anderen nicht gesehen oder abgelehnt wurde, führt nun zu einem Selbst, das anzusehen unerträglich ist und daher ausgeschlossen werden muss. Ausgeschlossen zu werden - sollte die Person jemals den Mut aufbringen, dem Wunsch nach Verbundenheit nachzugeben - löst immer noch Scham aus, aber die Erklärung dafür, warum der Ausschluss erfolgt, liegt im schändlichen Selbst der Person. Scham, die durch Ausgrenzung entstand, wird jetzt zur Scham, die sich aus dem gescheiterten Selbst ergibt. Die Wahrnehmung des Selbst als gescheitert, die bei von Missbrauch Betroffenen so ausgeprägt ist, manifestiert sich bei den Vernachlässigten in dieser Weise und kennzeichnet ihre chronische Scham.

Das Verlockende an chronischer Scham

Klient(inn)en, die in zwischenmenschlichen Lebenssituationen traumatisiert wurden, in denen Unterwerfung zu dem Gefühl führte, versagt zu haben, und/oder in denen fehlende Anerkennung zum Erleben von Ausgeschlossen-sein führte, sind oft untrennbar an das Gefühl (chronischer) Scham gebunden, die sie empfinden (De Young, 2015). Dieses wird nicht vorrangig als eine toxische Kraft gesehen, die Wertschätzung, (soziale) Verbundenheit und das Gefühl der Selbstwirksamkeit im Leben mindert, sondern als ein wichtiger Aspekt dessen, wer sie sind, der es ihnen ermöglicht, ihr Leben auf eine sicherere Weise zu gestalten. Wie ein Patient mit einer Vorgeschichte chronischer Vernachlässigung erklärte: „Wenn ich nichts versuche oder unternehme, bleibt mein Leben vorhersehbar und beständig - nichts Schlimmes kann passieren, ich kann nichts falsch machen und ich kann nicht verletzt werden".

Zwei Elemente dieser (vermeintlichen) Sicherheit werden in diesem Beitrag erläutert. Das erste ist das intrapersonale Selbst, das zweite das intrapersonale Selbst-Andere. […]

► Martin Dorahy: Scham und Schuld bei traumatisierten Menschen (Ralf Vogt) (2020)

Martin Dorahy   |   Tags: emotionen, täter-opfer